Casablanca  | 2012
Die koloniale Moderne 


Seit jeher wird Marokko von Zyklen aus Unterdrückung, Gewalt und Befreiung bestimmt. Auch in der jüngeren Geschichte. So wird sich heuer, am 30. März 2012, ein Jahr nach dem Anschlag vom 29. April 2011, die Aufteilung des Landes in ein französisches und ein spanisches Protektorat zum hundertsten Mal jähren. Dies ist kein Grund, um zu feiern, bietet hier jedoch den Anlass, über die stadträumlichen Konsequenzen der Kolonialisierung nachzudenken, jene spätmodernen Planungen, die dem Land ein internationales (also europäisches) Gesicht geben sollten. Seit jeher ist Casablanca, drittgrößte Stadt Nordafrikas, die weiße Stadt, das wirtschaftliche Zentrum von Marokko.

Stadtplanung für Algier und Casablanca
Urbane Modernisierungsfantasien entstehen immer in Ausnahmezuständen, also nach Kriegen, während einer Hochkonjunktur oder Rezession, im Zuge von Industrialisierungsschüben oder eben als Folge  kolonialer Eroberungen. Marokko war ab Ende März 1912 eine franzöische Kolonie (seit 1956 eine unabhängige konstitutionelle Monarchie). Seit der französischen Übernahme hatte sich Casablanca nahezu verfünffacht und breitete sich nun mit informellen Siedlungen, den Bidonvilles,  unkontrolliert aus. In den 1950ern entsandte Frankreich Architekten, um nach dem Land nun auch die Stadtplanung zu erobern. Stadtplanung im großen Stil war also gefragt. Beauftragt wurden Architekten der ATBAT ? Afrique-Gruppe, dem afrikanischen Zweig der Forschungsgruppe ATBAT (Atelier des bâtisseurs), ursprünglich zum Bau von Le Corbusiers waghalsigstem Wohnbau, der Unité d'habitation in Marseille, gegründet. Die wirklichen Aufgaben lagen jedoch nicht in Frankreich selbst. Le Corbusier entwarf um 1950, ungefragt, Pläne für ein neues, gigantisches Algier, die restliche Gruppe konzentrierte sich auf Casablanca, um dort jene Ideen zu verwirklichen, für die Europa noch nicht bereit schien: plastisch gegliederte Zeilen in strahlendem Weiß, frei gelegte Erschließungsgänge und durchlüftete Atriumwohnungen, basierend auf Modulen mit klug versetzten, zweigeschoßigen Loggien für den benötigten Freiraum und Schatten.

Erinnerungslinien und gelebter Stadtraum, 50 Jahre danach
Auf Originalaufnahmen gleichen die Siedlungen abstrakten Modellen: Gestapelte, weiße Boxen mit scharf geschnittenen Kanten stehen auf einem zur Gänze geleerten Terrain. Nicht Fenster gestalten Fassaden, sondern in offene Traggerüste gehängte Kuben, die Baukörper gleichmäßig überziehen und ihnen eine mehrschichtige Tiefe geben, durch wenige Farbflächen akzentuiert. Heute, nach über einem halben Jahrhundert, sind die Bauten kaum wieder zu erkennen. Jeder Freiraum wurde als Wohnraum adaptiert, offene Loggien wurden geschlossen, Balkone überbaut und das Weiß ist Rot-, Beige- und Gelbtönen gewichen. Und dennoch haben sich die Bauten gerade in diesem Transformationsvermögen mehr als bewährt, auch wenn dadurch die räumlichen Prinzipien der Moderne (Durchlüftung, Sichtbarkeit der Struktur, Freiraum) und manchmal die natürliche Belichtung einzelner Räume abhanden gekommen sind. Aber guter Wohnbau sollte ohnehin eher an seiner Bewohnbarkeit bewertet werden, als an einer abgehobenen Ästhetik. Die Bauten sind nun weniger glatt und scharfkantig, sie repräsentieren heute kein abstraktes Schema. Die Wohnungen halten Familienzuwachs sichtlich stand, und der oft fehlende private Freiraum wird in den öffentlichen Raum verlagert. Der frühe leere Stadtraum rund um die Gebäude ist heute gefüllt. Lediglich Spuren an Wänden erinnern daran, dass hier früher Kuben hervortraten. Sie sind Erinnerungslinien einer experimentierfreudigen und zugleich arroganten Moderne.

Toulouse Le Mirail
Was durch Aneignung bis heute in Marokko funktioniert, scheiterte im eigenen Land. Nach diesen Versuchen in den Kolonien schien das Phantasma der  „Villes Nouvelles“, also der Stadtplanungen im großen Stil, in Frankreich nicht nur realisierbar, sondern wurde schlicht zum Allheilmittel sämtlicher Stadtprobleme erklärt. Als Mitte der 1950er Jahre infolge der florierenden Wirtschaft Arbeitskräfte aus den nun ehemaligen Kolonien ins Land geholt wurden, begann man, Satellitenstädte zu bauen: ohne jeden Konnex und Kontext, faktisch von bestehenden Städten getrennt durch neue Stadtautobahnen, eine Art Kolonialismus also im eigenen Land. Beispeile gibt es viele: Paris, Lyon oder Marseille.
1954 gewannen Georges Candilis und Shadrach Woods, zuvor Architekten von ATBAT-Afrique in Casablanca, gemeinsam mit Alexis Josic, den Wettbewerb für eine solche Neustadt am Stadtrand von Toulouse, „Toulouse Le Mirail“, für mehr als 100.000 Bewohner. Der Plan der, als „Team Ten“ bekannten Gruppe, war bemerkenswert und unterschied sich eindeutig von allen zuvor entstandenen Städten, alleine dadurch, im Stadtgrundriss eine wie organisch gewachsene Baumstruktur mit einem komplexen Netz aus Straßen, Wegen und Plätzen in feingliedrigen Nuancen abzustimmen und in mehreren Ebenen anzuordnen. Unterschiedlichste Wohnungstypologien orientierten sich an den in Afrika gesammelten Erfahrungen. Diese soziale Stadt verfügte über Gemeinschaftseinrichtungen ebenso wie durchgrünte Weite.

Trotz aller Qualitäten scheiterte das Konzept der isolierten Stadt, Ghettoisierung, Kriminalisierung und Dämonisierung waren die Folge. 1998 war auch Le Mirail eine jener Banlieues, die als „quartier sensible“ in Schlagzeilen von sich reden machte. Nach dem gewaltsamen Tod eines Beur, eines Jugendlichen maghrebinischer Herkunft, folgten auch im Mirail Straßenkämpfe mit den Flics, der französischen Polizei. Stadterneuerungsprogramme versagten, infolge wurden Teile der Stadt demoliert, um eine zu hohe Dichte und somit Probleme zu beseitigen. Damit wurden auch ursprüngliche Qualitäten, ähnlich wie in Casablanca, aber unter anderen Vorzeichen, zerstört. Radikale Modernisierungsfantasien haben immer etwas Kolonialistisches an sich. Wurde das Land von der eigenen Geschichte eingeholt? Kulturen lassen sich weder transferieren, noch im annektierten Land erprobte Modelle im eigenen Land rekontextualisieren.

 

In: Lippitsch, Doris (Hg.): QUER. Seiten für Architektur und Urbanes. Nr. 1/2012. Ecomedia, Wien 2012.

 



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